Alfred Sohn-Rethel – Wie unser Denken vom Handel geprägt wird

Die Grundidee: Erst handeln, dann denken

Alfred Sohn-Rethel stellt eine wichtige Frage: Wie kommen wir eigentlich auf Dinge? Die meisten Philosophen dachten: Zuerst haben wir Ideen im Kopf, dann handeln wir. Sohn-Rethel dreht das um: Zuerst handeln wir, und dabei entstehen unsere Denkformen.

Sein wichtigstes Beispiel ist der Handel mit Geld. Wenn ich einen Apfel für 2 Euro verkaufe, behandle ich den Apfel plötzlich nicht mehr als das, was er ist – eine süße, rote Frucht. Stattdessen wird er zu einer abstrakten Sache, die „2 Euro wert“ ist. Ich handle so, als könnte man Äpfel, Bücher und Fahrräder alle miteinander vergleichen – obwohl sie völlig unterschiedlich sind.

Diese Realabstraktion passiert nicht in meinem Kopf, sondern in der Wirklichkeit: Beim Tauschen mache ich aus konkreten Dingen abstrakte Werte. Und diese alltägliche Handlung formt dann meine Art zu denken.

Die Folgen: Denken und Handeln passen nicht mehr zusammen

Durch diese Abstraktionen entsteht ein Problem: Was wir tun und was wir darüber denken, passt nicht mehr zusammen. Wir entwickeln eine Art von Rationalität, die sich für „rein logisch“ hält und vergisst, dass sie aus dem Handel stammt.

Diese Denkweise ist sehr erfolgreich – sie ermöglicht Wissenschaft, Technik und Mathematik. Aber sie ist auch „blind“ für ihre eigene Herkunft und tut so, als wäre sie schon immer da gewesen.

Der Taylorismus: Fabrik als Denkmaschine

Um 1880 entstehen riesige Fabriken mit enormen Maschinen. Frederick Taylor entwickelt ein System, um die Arbeit bis ins kleinste Detail zu kontrollieren. Er zerlegt jeden Arbeitsschritt in winzige Bewegungen und misst, wie lange jede dauert.

Das Ergebnis: Kopfarbeit (Planen, Denken) und Handarbeit (Ausführen) werden komplett getrennt. Manager denken, Arbeiter führen aus. Die Produktion wird extrem effizient, aber die Arbeiter verlieren den Überblick über das, was sie da eigentlich herstellen.

Das große Dilemma: Wenn Maschinen nicht stillstehen dürfen

Hier entsteht ein Widerspruch: Riesige Fabriken mit teuren Maschinen müssen ständig laufen, um sich zu lohnen. Aber der Markt braucht nicht immer alles, was produziert werden kann.

Die Lösung? Man produziert Dinge, die man eigentlich nicht braucht: Waffen, Wegwerfprodukte, unnütze Luxusgüter. In den 1930er Jahren lief die deutsche Rüstungsindustrie auf Hochtouren – nicht weil Panzer das Leben verbesserten, sondern weil die Maschinen beschäftigt werden mussten.

Die versteckte Chance: Wir arbeiten bereits zusammen

Sohn-Rethel entdeckt etwas Faszinierendes: Technisch gesehen arbeitet die moderne Fabrik bereits wie ein einziger „gesellschaftlicher Gesamtarbeiter“. Alle Arbeitsschritte greifen perfekt ineinander, Menschen und Maschinen sind aufeinander abgestimmt.

Das Problem ist nur: Diese kollektive Produktivkraft gehört wenigen Privateigentümern, die sie für ihre eigenen Zwecke nutzen. Die Art, wie wir arbeiten, passt nicht mehr zu der Art, wie Besitz verteilt ist.

Der Ausweg: Kopf und Hand wieder zusammenbringen

Sohn-Rethel sieht drei Schritte für eine Lösung:

  1. Privateigentum an wichtigen Produktionsmitteln abschaffen – Die Fabriken sollen allen gehören, die dort arbeiten.
  2. Trennung von Planung und Ausführung aufheben – Alle sollen sowohl denken als auch handeln können. Dafür braucht es bessere Bildung für alle.
  3. Bewusste politische Entscheidung – Die Gesellschaft muss sich entscheiden, dass Zusammenarbeit wichtiger ist als Konkurrenz.

Beispiel China: „Politik führt das Kommando!“

China versuchte zeitweise, diese Ideen umzusetzen. Arbeiter sollten auch studieren können, Intellektuelle sollten auch körperlich arbeiten. Der Slogan war: „Put politics in command!“ – nicht die Technik soll bestimmen, was produziert wird, sondern demokratische Entscheidungen.

Ob das funktioniert hat, ist umstritten. Aber es zeigt: Der Konflikt zwischen kollektiver Produktion und privater Aneignung ist nicht naturgegeben.

Fazit: Die Zukunft liegt in unseren Händen

Sohn-Rethel argumentiert: Die moderne Technik macht es möglich, ohne Herrschaft zu produzieren. Alle nötigen Voraussetzungen sind da – automatisierte Fabriken, vernetztes Wissen, kollektive Arbeitsorganisation.

Nur die Besitzverhältnisse stehen noch im Weg. Ob die „direkten Produzenten“ – also alle, die wirklich arbeiten – den Mut und die Kraft haben, diese Verhältnisse zu ändern, entscheidet über die Zukunft.

Die Abstraktion, die mit dem Handel begann, und der Taylorismus, der die Kooperation perfektionierte, könnten am Ende die Grundlage für eine Gesellschaft schaffen, in der Denken und Handeln wieder zusammenpassen – weil die Menschen nicht mehr Dinge tauschen, sondern gemeinsam produzieren, was sie wirklich brauchen.