WENN MASCHINEN MALEN: KI-KUNST IM SPIEGEL DER PHILOSOPHIE

Die Frage, ob KI-Kunst wirklich Kunst sein kann, beschäftigt heute viele Menschen und lässt sich mithilfe von Ludwig Wittgensteins Konzept der “Familienähnlichkeit” überraschend klar beantworten. Stell dir vor, du stehst in einer Galerie und betrachtest ein wunderschönes Gemälde mit perfekt harmonierenden Farben und ausgewogener Komposition, das eine bewegende Geschichte erzählt. Erst beim Lesen des Schildchens erfährst du, dass dieses Werk von einer Künstlichen Intelligenz erschaffen wurde.

DIE KUNSTFAMILIE: WITTGENSTEINS REVOLUTIONÄRE IDEE

Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit erklärt Kunst wie eine große Familie: Nicht alle Geschwister haben dieselben Augen oder die gleiche Nase, aber die Familienähnlichkeit ist dennoch erkennbar. Genauso gibt es keine strenge Checkliste für Kunst, sondern verschiedene “Familienmerkmale” wie ästhetische Qualitäten, formale Komplexität, Bedeutungstiefe, Zugehörigkeit zur Kunsttradition, handwerkliches Können, individueller Standpunkt, Kreativität und bewusste schöpferische Absicht.

MEILENSTEINE DER DIGITALEN REVOLUTION: DREI WEGWEISENDE WERKE

Betrachtet man prominente KI-Kunstwerke, wird deutlich, dass diese durchaus viele dieser Merkmale erfüllen. Ein Meilenstein war “Edmond de Belamy” aus dem Jahr 2018, ein Porträt eines imaginären Mannes, das mit einem generativen Adversarial Network erstellt wurde.
Dieses Werk schaffte als erstes KI-Kunstwerk den Sprung in die traditionelle Kunstwelt und wurde bei Christie’s für etwa 432.500 USD versteigert – weit über der ursprünglichen Schätzung. Die beigefügten Fotos zeigen dieses und andere bedeutende Beispiele.
Noch kontroverser diskutiert wurde “Théâtre D’opéra Spatial” von Jason M. Allen aus dem Jahr 2022, das mit Midjourney und Photoshop erstellt wurde und den Hauptpreis der digitalen Kunstkategorie beim Colorado State Fair gewann.
Die Diskussion über die Urheberschaft führte dazu, dass das US Copyright Office den Urheberrechtsschutz ablehnte, da der menschliche Beitrag als zu gering eingestuft wurde.
Besonders bemerkenswert ist auch “The Electrician”, ein schwarzweißes Bild eines älteren und jüngeren Menschen, das Boris Eldagsen vollständig mit DALL·E 2 für die Sony World Photography Awards 2022 erzeugte.
Eldagsen lehnte den Preis bewusst ab, um Debatten über KI in der Kunst anzustoßen und die Grenzen zwischen menschlicher und maschineller Kreativität zu hinterfragen.

DER GROSSE TEST: WO KI-KUNST GLÄNZT UND WO SIE KÄMPFT

Diese Beispiele zeigen, dass KI-Kunst eindeutig ästhetische Qualitäten und formale Komplexität besitzt. Moderne KI-Systeme können beeindruckend schöne und technisch versierte Werke erschaffen, die in anerkannten Kunsttraditionen stehen. Auch das “Lernen” der KI durch Training ähnelt der menschlichen Fertigkeitsentwicklung. Herausfordernder wird es bei Bedeutungstiefe und individuellem Standpunkt, da KI keine eigenen Gefühle und Lebenserfahrungen besitzt. Dennoch kann durch die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine durchaus bedeutungsvolle Kunst entstehen, und KI entwickelt ihre eigene Form digitaler Kreativität durch das Kombinieren und Transformieren gelernter Inhalte.

DIE ÜBERRASCHENDE ANTWORT: WILLKOMMEN IN DER KUNSTFAMILIE

Das überraschende Ergebnis ist, dass KI-Kunst tatsächlich als echte Kunst gelten kann, weil sie genügend der wichtigen Familienmerkmale besitzt. Sie muss nicht genauso sein wie menschliche Kunst – genau wie verschiedene Familienmitglieder unterschiedliche Eigenschaften haben können. Wittgensteins flexible Denkweise hilft uns, offen für neue Kunstformen zu bleiben, anstatt starr an alten Definitionen festzuhalten. Dies ist besonders wichtig in unserer sich schnell wandelnden digitalen Zeit, wo KI neue, unerwartete Formen der Kreativität entwickelt. KI-Kunst ist nicht der Ersatz für menschliche Kreativität, sondern eine faszinierende Ergänzung der großen Kunstfamilie und möglicherweise der Beginn einer aufregenden neuen Ära der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen.