Die nationalsozialistische Besiedlungspolitik in Osteuropa war Teil eines umfassenden kolonialen Gewaltprojekts, das unter dem Begriff Generalplan Ost firmierte. Ziel dieses Plans war die vollständige ethnische und territoriale Neuordnung großer Teile Mittel- und Osteuropas zugunsten eines „germanischen Lebensraums“. Die ideologische Grundlage bildete die Vorstellung von einem existenziellen Rassenkampf, in dem die „arische“ Zivilisation gegen eine angeblich zersetzende jüdisch-slawische Bedrohung verteidigt werden müsse. In dieser Logik war der Osten kein Nachbarsraum, sondern ein zu erobernder und umzuwandelnder Kolonialraum – rückständiges Gebiet, das „kultiviert“ und von unerwünschten Elementen „gesäubert“ werden sollte.
Konkret sah der Generalplan Ost vor, bis zu 50 Millionen Menschen – vor allem Juden, Polen, Ukrainer, Russen und andere Slawen – zu vertreiben, zu versklaven oder zu töten, um Raum für Millionen deutscher Siedler zu schaffen. Diese sollten in neu errichteten Musterdörfern leben, ausgestattet mit moderner Infrastruktur, deutschen Schulen und Verwaltungen. Die Enteignung, Vertreibung oder Ermordung der einheimischen Bevölkerung waren dabei kein Nebeneffekt, sondern integraler Bestandteil der Siedlungspolitik.
Der Ablauf der Besiedlung folgte einem klar strukturierten Plan: Zuerst wurden ganze Dörfer oder Stadtviertel gewaltsam geräumt, oft innerhalb weniger Stunden. Die betroffenen Familien – meist jüdische oder polnische – wurden deportiert, in Ghettos gezwungen oder sofort ermordet. Im Anschluss rückten Siedlerzüge aus dem „Altreich“ oder den besetzten Gebieten wie dem Baltikum oder der Bukowina an. Die ankommenden deutschen Familien wurden mit propagandistischen Versprechen empfangen, als „Pioniere des Reichs“, die den wilden Osten zivilisieren würden.
Vor Ort wurden sie in beschlagnahmte Häuser und Höfe eingewiesen – oft noch mit den Spuren der gewaltsam vertriebenen Vorbewohner. Das Mobiliar, Hausrat, Vieh und Vorräte wurden in vielen Fällen übernommen, als sei es „verwaistes Eigentum“. Die Kontrolle über die neuen Siedlungen lag bei einem System aus Blockwarten, Dorfleitern und SS-Verwaltern, die nicht nur politische Loyalität durchsetzten, sondern auch über Hygiene, Ordnung, Arbeitspflicht und die Einhaltung nationalsozialistischer Normen wachten. Wer sich nicht einfügte – auch unter den Siedlern –, riskierte Denunziation oder Rückversetzung.
Zur Unterstützung der neuen Siedlungsstruktur wurden einheimische Polen oder Ukrainer als Zwangsarbeiter eingesetzt, um Felder zu bestellen, Häuser instand zu setzen oder Infrastruktur zu errichten. Diese wurden streng hierarchisch verwaltet und hatten keinerlei Schutz vor Gewalt, Willkür oder willkürlicher Umsiedlung.
So erschreckend einzigartig die industrielle Effizienz und ideologische Totalität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik war, so steht sie doch in einem größeren Zusammenhang historischer Siedlungs- und Vertreibungsprojekte anderer Mächte im 20. Jahrhundert. Auch das faschistische Italien unter Mussolini betrieb in Nordafrika eine aktive Besiedlungspolitik: In Libyen etwa wurden italienische Bauern in eigens geplanten Koloniedörfern angesiedelt, während nomadische Bevölkerungsgruppen interniert, vertrieben oder getötet wurden. Ähnlich verfuhren die Japaner nach der Besetzung Mandschuriens, das ab 1931 in den Marionettenstaat Mandschukuo umgewandelt wurde. Japanische Siedler wurden dort mit staatlicher Unterstützung angesiedelt, während die chinesische Bevölkerung unterdrückt, versklavt oder durch medizinische Experimente systematisch misshandelt wurde.
Auch in der Sowjetunion kam es unter Stalin zu massiven Umsiedlungen, etwa der Krimtataren, Tschetschenen oder Wolgadeutschen. Ganze Bevölkerungen wurden auf Grundlage ethnischer Kriterien deportiert und in unwirtliche Gebiete Zentralasiens zwangsumgesiedelt – häufig mit tödlichen Konsequenzen.
In den USA wiederum wurde im 19. Jahrhundert unter dem Schlagwort des „Manifest Destiny“ die indigene Bevölkerung systematisch aus ihrem Land verdrängt, vertrieben oder vernichtet, um Platz für weiße Siedler zu schaffen. Diese Art kolonialer Expansion innerhalb des eigenen Kontinents zeigt strukturelle Parallelen zur nationalsozialistischen Ostpolitik, auch wenn sich Ideologie und Intensität unterscheiden.
Was den Generalplan Ost dennoch besonders macht, ist die Verbindung von Siedlungsutopie, Rassenideologie und organisiertem Massenmord. Während andere Siedlungsprojekte oft auf wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Dominanz zielten, kombinierte der NS-Staat seinen Kolonialismus mit einem totalitären Vernichtungswillen, der industrielle Vernichtungslager, Ghettos und Hungertod bewusst in eine übergeordnete Bevölkerungsstrategie einbettete. Der Holocaust, die Zwangsarbeit in Konzentrationslagern, die Deportationen und die großflächige Umverteilung von Besitz und Land waren keine parallel laufenden Phänomene, sondern Elemente eines einheitlich gedachten Entsiedelungs- und Besiedlungsprogramms.
So betrachtet ist die nationalsozialistische Besiedlungspolitik nicht als bloße Fortsetzung älterer Kolonialmodelle zu verstehen, sondern als deren radikale Zuspitzung: Eine apokalyptische Version europäischer Expansion, in der technokratische Bürokratie, pseudowissenschaftlicher Rassismus und moderne Infrastruktur zusammenwirkten, um ein neues, „gereinigtes“ Imperium im Osten zu errichten – mit Vernichtung als Voraussetzung für Utopie.
Was dieses Kapitel der Geschichte auch im globalen Vergleich dann wieder einmalig macht, ist die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ ein einzigartiges System von Reparationen und Wiedergutmachungsleistungen schuf. Deutschland zahlt zwischen 1945 und 2018 über 86 Milliarden Euro an Holocaust-Überlebende, jüdische Organisationen, den Staat Israel
Gerade die frühen Jahre des israelischen Staates machen deutlich, wie konkret diese Reparationen wirkten – nicht abstrakt, nicht symbolisch, sondern überlebenswichtig. Anfang der 1950er befand sich Israel in einer existenziellen Krise: das Land war wirtschaftlich am Limit, litt unter massiver Inflation, Ressourcenmangel und der kaum zu bewältigenden Aufgabe, Hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus Europa und arabischen Ländern aufzunehmen. Wohnraum, Lebensmittel, Arbeitsplätze – alles war knapp. Die Regierung unter David Ben-Gurion sah sich gezwungen, zeitweise sogar die Einwanderung zu bremsen, weil der junge Staat seine Menschen nicht versorgen konnte.
In dieser Lage kamen die Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik – trotz heftiger innerisraelischer Kontroversen – zur rechten Zeit. Viele Israelis lehnten die Vorstellung ab, „deutsches Geld“ zu nehmen, sahen es als moralisch untragbar. Doch die ökonomische Not war so gravierend, dass Ben-Gurion politisch durchsetzte, was vielen als Verrat erschien. Im Rückblick war es ein Wendepunkt: die Reparationen ermöglichten es Israel, sich wirtschaftlich zu stabilisieren, Infrastruktur aufzubauen und handlungsfähig zu bleiben – ein symbolischer wie materieller Rettungsanker in einer Phase äußerster Unsicherheit.
Diese doppelte Bewegung – ein Täterstaat, der zahlt, und ein Überlebensstaat, der annimmt – ist in der Geschichte der politischen Ethik ebenso einmalig wie fragil. Und sie verweist auf einen zentralen Punkt: Wer heutige geopolitische Spannungen verstehen will, muss die Vergangenheit nicht nur kennen, sondern ihre Nachwirkungen begreifen.
Die deutschen Reparationen stehen in keinem Verhältnis zum unermesslichen Leid, markieren jedoch einen weltweit einmaligen Versuch, ein historisches Verbrechen nicht nur zu erinnern, sondern institutionell anzuerkennen und zu kompensieren. Verglichen mit anderen Staaten, die koloniale Gewalt und Völkermord verübt haben – sei es gegenüber indigenen Bevölkerungen, in Afrika oder Asien –, bleibt die deutsche Wiedergutmachungspolitik singulär. Kein anderes Land hat in vergleichbarer Weise systematisch, juristisch und materiell versucht, Verantwortung zu übernehmen. Dass dies weder das Unrecht aufwiegen noch die Toten zurückbringen kann, ist unbestritten. Aber es verändert die historische Bewertung: Hier wurde – trotz aller politischen Widerstände – ein Maßstab gesetzt, der bis heute Bezugsgröße geblieben ist.
Zugleich macht diese Geschichte sichtbar, wie brüchig der Glaube an universelle Lehren aus dem Holocaust ist, denn während Europa sich seither am Zivilisationsbruch von Auschwitz misst, wird Hitler in Teilen Asiens bis heute verharmlost, instrumentalisiert oder sogar bewundert – etwa wenn in Indien Statuen von Subhas Chandra Bose errichtet werden, der mit dem NS-Regime paktiert hatte, oder wenn in Lehrplänen und Bestsellerlisten Japans die Shoah kaum eine Rolle spielt; das moralische Gewicht von „Nie wieder“ ist global gesehen eine westliche Ausnahme, keine Selbstverständlichkeit.
Persönlich frage ich mich immer öfter, ob die von mir so bewunderte künstlerische Kraft des japanischen Films nach dem II. Weltkrieg nicht auch daher rührt, dass er – anders als der deutsche – nie durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des eigenen Landes gebremst oder belastet wurde.