Gilles Deleuze und Félix Guattari haben in ihren Werken, besonders in Anti-Ödipus und Tausend Plateaus, eine Theorie der Spontaneität oder des Begehrens entwickelt. Sie beschreiben Begehren als eine kreative, produktive Kraft, die in ihrer Natur positiv ist. Diese Vorstellung steht im Gegensatz zur Auffassung der Psychoanalyse, die Spontaneität als Ausdruck eines Mangels verstehen.
1. Begehren als reine Positivität: Ist Mangel wirklich irrelevant?
Deleuze und Guattari zeichnen ein Bild der Spontaneität als reinen Ausdruck positiver Verbindungen. Sie argumentieren, dass das Begehren nichts mit Mangel zu tun habe, sondern als Kraft verstanden werden sollte, die ständig Verbindungen herstellt – zwischen Menschen, Dingen und Ideen. Ihre Ansicht hebt die kreative und produktive Natur der Spontaneität hervor, indem sie die Vorstellung ablehnt, dass Begehren aus einem Defizit heraus entsteht.
Damit wird über die Rolle, welche Abwesenheit und Mangel im menschlichen Leben spielen, hinweggegangen. In der Psychoanalyse, vornehmlich bei Freud und Lacan, wird das Begehren als Reaktion auf einen Verlust oder Mangel gedeutet. Ein Beispiel dafür: die kindliche Erfahrung der Abwesenheit der Mutter – das Verlangen nach ihrer Rückkehr als Struktur des Begehrens.
Die kindliche Freude am Spiel mag spontan erscheinen, doch selbst in diesen Momenten spielt oft die Abwesenheit – das, was fehlt – eine wesentliche Rolle. Kann Begehren wirklich ganu unabhängig von Mangel gedacht werden? Lässt Deleuze und Guattaris Bild der Spontaneität hier etwas aus?
Die Notwendigkeit von Verboten und symbolischen Ordnungen
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt betrifft die gesellschaftlichen Implikationen von Deleuze und Guattaris Theorie. In ihrer Vision einer neuen, freieren Gesellschaft soll Begehren ohne die Beschränkungen durch Verbote oder symbolische Ordnungen fließen. Diese Vorstellung einer Welt, in der Menschen sich frei durch die reine Positivität ihres Begehrens verbinden, mag utopisch klingen, stellt jedoch in den Augen der Kritiker ein Problem dar.
Soziale Ordnung basiert in jeder Form auf Regeln und Einschränkungen. Ohne diese Verbote – ob rechtlich, moralisch oder symbolisch – wäre eine geregelte menschliche Interaktion kaum vorstellbar. In modernen Gesellschaften ist die Vorstellung von Einwilligung, von Grenzen und gegenseitigem Respekt tief in solche Ordnungen eingebettet. Ein völliges Auflösen dieser symbolischen Strukturen, wie es in Deleuze und Guattaris Idee der „neuen Erde“ angedeutet wird, könnte in einem Zustand von Chaos enden, in dem soziale Kohäsion nicht mehr möglich ist.
Prohibitionen, so Kritiker, sind notwendig, um ein funktionierendes soziales Gefüge aufrechtzuerhalten. Begehren kann nicht ohne Rücksicht auf soziale Normen oder die Wünsche anderer gelebt werden. Hier stellt sich die Frage: Ist eine Welt ohne Verbote und Einschränkungen tatsächlich erstrebenswert oder gar realisierbar? Wahrscheinlich nicht, da selbst anarchistische oder libertäre Gesellschaftsmodelle gewisse Grundregeln benötigen, um zu funktionieren.
Negation und das Negative: Ein unvermeidbarer Bestandteil des Lebens?
Eine der radikalsten Ideen von Deleuze und Guattari ist ihre Ablehnung von Negation und dem Konzept des Negativen. Während Philosophen wie Hegel und Psychoanalytiker wie Lacan betonen, dass Negation – also das Verneinen oder Ausschließen von Möglichkeiten – ein integraler Bestandteil des Denkens und der Existenz ist, lehnen Deleuze und Guattari dies ab. Sie bevorzugen ein Modell, das nur auf der Positivität des Begehrens basiert und jegliche Form von Negativität vermeidet.
Kritiker sehen darin jedoch eine problematische Vereinfachung. Negation spielt eine zentrale Rolle im menschlichen Denken und Handeln. Jede Entscheidung, die wir treffen, schließt automatisch andere Möglichkeiten aus – und das ist eine Form von Negation. Auch Sprache, die Deleuze und Guattari als ein repressives System ansehen, ist in Wirklichkeit eine Form von Negation, da sie Bedeutungen schafft, indem sie andere Bedeutungen ausschließt.
Die Frage ist also: Kann man Negation wirklich aus dem menschlichen Leben verbannen, ohne grundlegende Aspekte des Denkens und Seins zu ignorieren? Kritiker dieser Position argumentieren, dass Negation kein vermeidbarer Makel ist, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Lebens, den man akzeptieren und verstehen muss.